SOKA-SiG verfassungswidrig

Das Soka-sig ist verfassungswidrig

Derzeit sind zehn Verfassungsbeschwerden anhängig. Das Bundesverfassungsgericht wird sich mit folgenden Rechtsfragen beschäftigen:

 

Erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet das SOKA-SiG im Hinblick auf einen Verstoß gegen das im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) verankerte Verbot rückwirkend belastender Gesetze. Eine so genannte echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig. Sie liegt vor, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift.

 

Das Verbot echter Rückwirkung kann nicht ausnahmsweise durchbrochen werden. Denn der Tarifvertrag wird nicht durch einen anderen Tarifvertrag ersetzt, keine Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) durch eine andere AVE, sondern durch ein neues Gesetz. Aus einer tarifvertraglichen Regelung wurde eine gesetzliche Regelung – eine solche hatte aber nie bestanden. Dass ein Gesetz an die Stelle des Tarifvertrags treten würde, war schlichtweg nicht vorhersehbar und so ungewöhnlich, dass die Betroffenen hiermit sicherlich nicht gerechnet haben und auch nicht rechnen konnten.

 

Zudem kann der AVE eines Tarifvertrages im Gegensatz zu einer Rechtsverordnung schon prinzipiell nicht durch ein Parlamentsgesetz Rückwirkung beigelegt werden. Denn AVE und Rechtsverordnung sind ihrem Wesen nach verschiedene Rechtsakte:

 

Bei der AVE von Tarifverträgen handelt es sich im Verhältnis zu den nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern weder um einen Verwaltungsakt noch um eine Rechtsverordnung iSv Art. 80 GG. Vielmehr stellt die AVE einen Rechtsetzungsakt eigener Art (sui generis) zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtsetzung dar, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9 III GG findet.

 

Anders als eine Verordnung entspringt die für allgemeinverbindlich erklärte Regelung nicht notwendig dem Willen staatlicher Regelungsakteure. Die AVE erfolgt nicht aus eigenem Antrieb des Bundesministers, sondern allein auf gemeinsamen Antrag der Tarifparteien. Auch ihr Inhalt ist nicht ins Belieben des Ministers gestellt, denn inhaltliche Veränderungen einzelner Regelungen bleiben ihm verwehrt. Ihr liegt damit eine Regelung zu Grunde, die die Tarifparteien in Ausübung der in Art. 9 III GG verbürgten kollektiven Privatautonomie geschaffen haben und die sie ausdrücklich auf Außenseiter erstrecken wollen.

 

So sind auch die Rechtswirkungen materiell wie prozessual andere: Sind Tarifverträge rechtswidrig, kann dies jedes Gericht feststellen – sind Gesetze verfassungswidrig besteht nur das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts. Gesetze können nicht durch einen spezielleren Tarifvertrag verdrängt werden und sind damit der Konkurrenz durch andere Akteure des Tarifwesens entzogen.

 

Die Grundlegung der AVE in einer privatautonomen Regelung, die mittels eines staatlichen, demokratisch legitimierten Erstreckungsaktes auch jenseits ihrer privatautonomen Legitimation Wirkungen entfaltet, zeigt deutlich, weshalb ein Rechtsformwechsel, der die Voraussetzungen der gesetzlichen Grundlage des  Tarifvertragsgesetzes umgeht, nicht in Betracht kommt. Die AVE stützt und ergänzt tarifautonomes, grundrechtsgestütztes Handeln. Die gesetzliche Regelung ersetzt privatautonomes Handeln. Es stellt keine rechtstechnische Zufälligkeit dar, unter welchen Voraussetzungen auf Antrag der Tarifparteien eine Erstreckung der allein von ihren Mitgliedern legitimierten Regelungen erfolgen soll. Denn der Gesetzgeber hat bislang ganz bewusst darauf verzichtet, sich tarifvertragliche Inhalte zu eigen zu machen und sie auf Nichttarifgebundene zu erstrecken. Er übt sich in Zurückhaltung darin, lediglich die durch Tarifmitglieder privatautonom legimitierten Regelungen zu erstrecken.

 

Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG normierte Teilung der Gewalten ist nach dem Grundgesetz ein tragendes Organisations- und Funktionsprinzip. Die Gewaltenteilung dient der gegenseitigen Kontrolle der Staatsorgane und damit der Mäßigung der Staatsherrschaft (vgl. BVerfGE 3, 225).

 

Die Generalkassation formell fortbestehender Urteile durch den Gesetzgeber – so das Bundesverfassungsgericht - ist daher eine Maßnahme, die in einem Rechtsstaat besonderer Rechtfertigung bedarf.

 

Auch die Aufhebung der Beschlüsse des Bundesarbeitsgerichts vom 21.09.2016 und 25.01.2017 bedürfen solcher besonderen Rechtfertigung. Dieses Erfordernis entfällt auch nicht deshalb, weil das SOKA-SiG die Aufhebung der Beschlüsse formal gar nicht anordnet. Maßgeblich ist allein der Zweck des Gesetzes, der im Ergebnis die Beschlüsse wirkungslos werden lassen soll: „Die Sozialkassen des Baugewerbes müssen infolge der Entscheidungen des BAG vom 21. September 2016 damit rechnen, auf die Rückzahlung von Beiträgen in Anspruch genommen zu werden.“ (Bundestag- Drucksache 18/10631).

 

Die zur Rechtfertigung des SOKA-SiG angeführten Begründungen tragen den gewollten Eingriff in die Gewaltenteilung nicht ansatzweise. Weder die mögliche Sinnhaftigkeit des Sozialkassenverfahrens noch eine – nicht belegte – Insolvenzgefahr für die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse vermögen die Verletzung eines tragenden Organisations- und Funktionsprinzips unserer Demokratie zu legitimieren.

 

Die bisherige alleinige gesetzliche Grundlage für die verpflichtende Wirkung der Sozialkassentarifverträge findet sich in § 5 TVG. Diese Grundlage ist nicht erweiterbar. Denn Art 9 Abs. 3 GG gewährleistet eine Ordnung des Arbeitslebens und Wirtschaftslebens, bei der der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen und die Bestimmung über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrags grundsätzlich den Koalitionen überlassen hat (vgl. BVerfGE 34, 307 (316f)). Den frei gebildeten Koalitionen ist durch Art 9 Abs. 3 GG die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe zugewiesen und in einem Kernbereich garantiert, insbesondere Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen (unter Hinweis auf BVerfGE 4, 96 (106f); 18, 18 (26, 28); 20, 312 (317); 28, 295 (304); 38, 281 (306): BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 1977 – 2 BvL 11/74 –, BVerfGE 44, 322-353, Rn. 57).

 

Das Doppelgrundrecht des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG schützt sowohl den Einzelnen in seiner Freiheit, eine Vereinigung zur Wahrung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gründen, ihr beizutreten oder sie zu verlassen, als auch – i.S. eines Kollektivgrundrechts – die Koalition selbst in ihrem Bestand und ihrer Betätigung. Dazu gehört auch die Tarifautonomie als das Recht, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mit der Gegenseite auszuhandeln und durch Verträge verbindlich zu regeln. Zu den der Regelungsbefugnis der Koalitionen überlassenen Materien gehören insbesondere das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen Arbeitsbedingungen. Dies folgt aus der Bedeutung des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG als Freiheitsrecht der Koalitionen und aus dem Umstand, dass die Koalitions- von einer gewissen Staatsfreiheit gekennzeichnet ist. Die staatliche Festlegung von materiellen Arbeitsbedingungen durch Gesetz entzieht den Koalitionspartnern die Regelungsmacht und greift damit in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG ein. Sie schließt den Gestaltungsfreiraum der Koalitionen gänzlich aus.

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    reinhard ellert (Sonntag, 19 April 2020 11:29)

    wann endlich wird sich das Bundesverfassungsgericht damit beschäftigen.
    mein verfahren vor dem Arbeitsgericht Wiesbaden läuft seit über drei jahren, werde den
    eindruck nicht los, dass man, egal wie man argumentiert, bei der vorsitzenden Richterin
    gegen eine unsichtbare mauer läuft, was mir mehr als seltsam erscheint.
    ständig beruft sie sich auf urteile des Bundesarbeitsgerichts, wischt alle verfassungsrecht-
    lichen bedenken beiseite, als ob es keine bvg gäbe.